Am Donnerstag, 21.06.2012 lud der Hessische Jugendring (HJR) zu einer Abschlussveranstaltung des Projektes „AUGEN AUF! Mehr Aufmerksamkeit für Kinder- und Jugendarmut“ in das Murnau-Filmtheater in Wiesbaden. In einer Arbeitsgemeinschaft beschäftigten sich über ein Jahr lang verschiedene hessische Jugendverbände mit dem Thema der Kinder- und Jugendarmut. Zum Abschluss dieses Projekts wurde dieser Abend im Murnau-Filmtheater ausgerichtet, bei dem sich Gelegenheit zur Diskussion und fachverbandübergreifendem Austausch boten.

Nach einleitenden Worten durch die stellvertretende HJR-Vorsitzende Daniela Broda wurde in das Thema mit einem wachrüttelnden Kurzfilm eingeleitet. Die sich anschließende Podiumsdiskussion zum Thema „Bildung und soziale Teilhabe von armen Kindern und Jugendlichen – Wege aus dem Abseits“, moderiert von Nils Bremer (Chefredakteur Journal Frankfurt), war geprägt durch Ansichten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Die vier Podiumsgäste deckten mehrere Bereiche der Gesellschaft wie zum Beispiel Politik oder Wissenschaft ab. Die leitende HJR-Referentin für politische Bildung Kati Mühlmann durfte als Gäste begrüßen: Prof. Dr. Andreas Klocke (FH Frankfurt), Sven Frye (Vorsitzender des Deutschen Bundesjugendrings), Dr. Ralf-Norbert Bartelt (sozialpolitischer Sprecher der CDU-Landtagsfraktion) und Beate Hock (Kinder- und Jugendhilfeplanerin im Amt für Soziale Arbeit, Wiesbaden).

Schon bei der ersten Frage, ob Kinder- und Jugendarmut auf den ersten Blick erkennbar sei, gab es gegensätzliche Auffassungen. Zwar würden Kinder und Jugendliche minderbemittelte Gleichaltrige meist relativ schnell erkennen. Doch Armut insgesamt sei sehr facettenreich. So hob Prof. Dr. Andreas Klocke hervor, dass es neben materiellen Werten auch Armut in den Bereichen der Bildung, dem Wohnumfeld und durch schwierige Familienverhältnisse gäbe. Dazu nannte er auch einige statistische Zahlen: In Deutschland gelten aktuell 14% der Bevölkerung als arm oder von Armut bedroht. Als armutsgefährdet gilt hierbei, wer in einem Haushalt lebt, dessen durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen bei weniger als 60% des bundesdeutschen Medianeinkommens liegt. Dieses Medianeinkommen teilt die Gesellschaft in eine Hälfte mit mehr und eine Hälfte mit weniger Einkommen, kennzeichnet also den Median der Bevölkerung hinsichtlich der Einkommensverteilung. Gründe für die Armut seien nach Prof. Dr. Andreas Klocke meist Arbeitslosigkeit sowie erschwerte Familienverhältnisse wie zum Beispiel alleinerziehende Elternteile.

 

Anschließend lenkte Sven Frye die Diskussion in eine andere Richtung und wies auf die Gefahr hin, dass Armut zu sehr individualisiert dargestellt werde. Seiner Auffassung nach rede sich der größte Teil der Gesellschaft aus der Thematik heraus, indem Armut als personenspezifisches und nicht als gesellschaftliches Problem betrachtet werde. Getreu dem Motto: „Jeder ist selbst schuld an seiner Situation, wenn er nichts Anständiges lernt.“ Er warb für mehr gesellschaftliche und öffentliche Verantwortung. Die aktuellen Projekte zur Bekämpfung von Kinder- und Jugendarmut seien seiner Meinung nach eher kurzfristiger Natur und geprägt von wenig Nachhaltigkeit.

Frau Beate Hock berichtete von ihren Erfahrungen aus der täglichen Praxis mit sozial schwierigen Kindern und deren Familien. Im Hinblick auf die im Raum stehende Bildungsfrage, die bereits im Kindergartenalter über die weitere Entwicklung der Kinder entscheidet, nannte sie zahlreiche Beispiele welche die Diskussion bereicherten.

Gegen Ende der lebhaften Diskussion kamen die Teilnehmer sogar auf aktuelle Themenfelder der Politik wie das Betreuungsgeld  zu sprechen. Der sozialpolitische Sprecher der CDU-Landtagsfraktion Dr. Ralf-Norbert Bartelt äußerte zum Beispiel: „Es ist ja nicht so, dass Eltern, die ihre Kinder in die Kinderkrippe geben, kein Herz haben. Und es ist ja auch nicht so, dass Eltern, die ihre Kinder zu Hause erziehen, kein Hirn haben.“

Nach der Diskussion lud der HJR bei kleinen Snacks zum Austausch unter den Gästen ein. Für die dbb jugend hessen waren unser Vorsitzender Martin Walter und unsere stellvertretende Vorsitzende Julika Eidam in Wiesbaden vor Ort. Martin Walter hob das Engagement und den Mut des HJR hervor, das sensible Thema Kinder- und Jugendarmut zu behandeln. Er lobte die Arbeit der Projektgruppe und unterstrich die Unterstützung durch die dbb jugend hessen bei der Bekanntmachung des Themas bzw. der diesbezüglich notwendigen Sensibilisierung in der Gesellschaft. „Unsere Aufgabe ist es, die Interessen und Belange von Kindern und Jugendlichen zu vertreten und ihnen eine öffentliche Stimme zu verleihen. Allein deshalb ist es unsere Pflicht, die Aufmerksamkeit auf die wachsende Armut zu lenken und uns für bessere Lebensvoraussetzungen stark zu machen.“, äußerte Martin Walter die Auffassung der dbb jugend hessen.

Zum Abschluss wurde der Film „Die Entbehrlichen“ von Andreas Arnstedt vorgeführt (Link www.die-entbehrlichen.de). Das preisgekrönte Drama aus 2009 erzählt die wahre Geschichte vom zwölfjährigen Jakob Weiss, der aus Angst vor dem Kinderheim den Tod seines Vaters verheimlicht und alles tut, die Fassade aufrecht zu erhalten: Er geht zur Schule, besucht seine alkoholkranke Mutter im Krankenhaus und erzählt der trinkfesten Oma, sein Vater sei auf einer Schulung. Nur Hannah weiß um seine Not…Die Zeitung „DIE ZEIT“ urteilt über diesen Film: „Geht unter die Haut!“.

Julika Eidam und Martin Walter ziehen ein sehr positives Fazit über diese Abschlussveranstaltung des HJR zum Projekt „AUGEN AUF! Mehr Aufmerksamkeit für Kinder- und Jugendarmut“. Das Murnau-Filmtheater war perfekt geeignet für die Vorführung des Kurz- und Hauptfilms und zugleich auch das ideale Forum zur Darstellung und Diskussion der Inhalte zur Kinder- und Jugendarmut. Die Arbeitsgemeinschaft aus verschiedenen Fachjugendverbänden fand damit einen gelungenen Abschluss über das anderthalbjährige Projekt. Auf der Internetseite zeigt der Hessische Jugendring anhand vieler konkreter Beispiele, wie sich die hessischen Jugendverbände, die Stadt- und Kreisjugendringe und weitere Akteure der freien und öffentlichen Jugendarbeit schon heute erfolgreich gegen die Kinder- und Jugendarmut in Hessen engagieren.